Interview mit Thomas Siemon

Die Organisation in ihren verschiedenen Bestandteilen ganzheitlich zu betrachten und auch den Blick hinter die Kulissen zu wagen, ist eine wesentliche Aufgabe von Führungskräften. Bei einer systemischen Betrachtung von Führung bringen sie Ihre innere und äußere Haltung als Führungspersönlichkeit ein. Es ist wichtig, dass sie in den verschieden Situationen die relevanten Informationen und unterschiedlichsten Erwartungen schnell erkennen und Handlungsalternativen für sich und Ihr Team entwickeln.
Herr Siemon, sprach mit der Haufe Akademie über die für ihn wesentlichen Punkte des systemischen Ansatzes für Führungsaufgaben:

Woher kommt das Konzept der systemischen Führung?
Es gibt nicht den „einen“ theoretischen Hintergrund. Vielmehr speist sich der Ansatz aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Kybernetik, der Chaostheorie, Philosophie, Kommunikationstheorie Biologie. Sie haben alle eins gemeinsam, statt isolierter Objekte werden die Beziehungen dazwischen betrachtet.

Anstatt linearer Kausalketten, wenn A dann auch B ,werden zirkuläre Erklärungsmodelle bevorzugt wie: wenn A dann B und auch C oder A1.... Der systemische Ansatz bietet so eine neue Blickrichtung, in dem Systeme zur Beschreibung und Erklärung komplexer Phänomene herangezogen werden.
Ganz entscheidend für die wissenschaftliche Entwicklung war die soziologische Systemtheorie mit ihrem Hauptvertreter Niklas Luhmann. Mit Blick auf Organisation, sind neben vielen anderen besonders Peter Senge, C.O. Scharmer, E. Schein zu nennen. Die systemische Familientherapie als eine praktische Disziplin, hat in den letzten Jahrzehnten ganz entscheidend die Denkweise und Methoden bereichert und verfeinert.

Wie kamen Sie zum systemischen Führen?
Sehr früh habe ich eine Ausbildung zum systemische Paar- und Familientherapeut absolviert. Die Erkenntnisse daraus konnte ich später selbst als Führungskraft gut gebrauchen. Dabei geht es gar nicht so sehr um eine bestimmte Methodenkompetenz, sondern vielmehr um eine Sichtweise sich selbst zu den Geschehnissen um sich herum, immer wieder in Bezug zu setzten. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund:

Was treibt an? Welche Dynamiken entstehen dadurch und welche nicht? Wie werden wir den unterschiedlichen Erwartungen, auch unseren eigenen gerecht und bleiben dabei mit uns selbst und der Umwelt immer gut in Kontakt?

Und wie übertragen Sie diese Fragestellungen auf die Führung?

Eine der wesentlichen Fragestellungen bei Führung ist: Um was geht es wirklich ?
Oft steuern verdeckte Agenden, vage und hintergründige Regeln das Unternehmen und die Teams. Unterschiedliche Spieler mit unterschiedlichen Vorstellungen, ergeben ein Komplex ,dass man nur schwer auf den ersten Blick erschließen kann. Man braucht ein gutes Gespür um dieses Spiel hinter dem Spiel zu erkennen.
Das Gespür ist sogar in den meisten Fällen vorhanden, aber viele Menschen sind sehr unsicher diesem Gefühl zu vertrauen. Schließlich werden Entscheidungen in den Kontexten, in denen sich Führungskräfte bewegen, aufgrund scheinbarer harter Faktenlage getroffen und nicht auf Basis von Gefühlen. Auch gelingt eine sozialkomponente Versprachlichung von vagen Ideen als Angebot eher selten.
Mit dem systemischen Ansatz erschließen wir mit erprobten diagnostischen Mitteln, den

Hintergrund und die Komplexität des Sachverhaltes und wir nutzen uns selbst, mit unseren eigenen Gefühlen als ein mögliches diagnostisches Instrument, um unter dem Gesichtspunkt Sinn, für uns stimmige Antworten zu finden.

Wie geht es weiter, wenn die Gefühlslage identifiziert ist?

Dann muss ich mich der Frage stellen was zu tun ist. Was erfordert die Situation vom mir? Was müssen wir tun um das Ziel zu ereichen? Sehr günstig ist es, wenn ich die Konsequenzen aus den unterschiedlichen Handlungsoptionen mitdenke und mich frage, was ich besten Fall erwarten kann. Und wenn der nicht eintritt, was folgt dann? Dies abzuwägen und die möglichen Optionen auszuloten ist eine der Aufgaben einer Führungskraft.

Und was ist das Systemische daran?

Das Systemische dabei ist, dass ich alles in Beziehung zueinander und zu mir selbst setze. Als Führungskraft muss ich mich auch  fragen, was die Situation mit mir zu tun hat. Was

fällt mir leicht zu erkennen und was verstellt mir den Blick? Wo ist mein eigener Standpunkt? Welche Auswirkungen und Wechselwirkungen gibt es und was kann ich verändern um dem Ziel näher zu kommen?
Dabei werden Information plausibel, transparent und nachvollziehbar und darüber hinaus auch besser kommunizierbar; denn wenn ich etwas verstehe, kann ich es auch besser erklären. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Fähigkeit in Systemen zu denken.

In welchen Systemen bewegt sich denn einen Führungskraft?
An dieser Stelle möchte ich gerne Humberto Maturana zitieren, der maßgebliche Beiträge zur systemischen Sichtweise in der Biologie geleistet hat.

Ein System ist nicht ein Etwas ,das sich dem Beobachter präsentiert. Es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird.
Das bedeutet: wir selbst definieren die Systeme und ebenso deren Grenzen.
Beispielsweise können wir innerhalb eines Konzerns verschiedene Systeme definieren und betrachten. Der einzelne Mitarbeiter, die Führungskraft mit ihrem Team, alle Teams der

gesamten Abteilung, alle Abteilungen des gesamten Standorts oder auch alle Standorte des international verbreiteten Konzerns.

Und wie lässt sich dann ein System am sinnvollsten definieren? Wo setze ich die Grenzen?

Die Frage der Grenzen definiert sich nach dem Nutzen. Auf den Business-Kontext übertragen: Man kann beispielsweise sinkende Margen damit erklären, dass der Weltmarkt momentan stark leidet. Dann ist das System sehr stark ausgeweitet. Andererseits kann man das System enger auf das Unternehmen und seinen Kundenkreis begrenzen: Möglicherweise verkauft sich das Produkt schlechter, weil die Werbestrategie nicht mehr zu den Kunden passt.

Geben Sie ein Beispiel aus dem Führungsalltag

Ein Mitarbeiter sorgt wieder einmal für Probleme. Die Führungskraft hat nun verschiedene Möglichkeiten, auf diese Situation zu reagieren: Sie stempelt den Mitarbeiter als schwierig ab und beschäftigt sich nicht weiter damit.
Die systemische Betrachtung setzt die Grenzen anders: Die Führungskraft könnte sich fragen, warum dieser Mitarbeiter schwierig ist. Vielleicht ist das eigene Verhältnis zum Mitarbeiter nicht unbelastet oder die familiäre Situation des Mitarbeiters hat sich verändert. Vielleicht haben sich aber auch das Arbeitsumfeld oder die Aufgaben des Mitarbeiters verschoben oder der Betrieb befindet sich in einem Veränderungsprozess. Möglicherweise sind dadurch die Verhaltensweisen des Mitarbeiters erst „schwierig“ geworden und waren unter den vergangenen Umständen absolut akzeptabel.
Es sinnvoll und wichtig, genau und konkret hinzuschauen. Denn viele Lösungen werden übersehen, wenn man von vorneherein die Grenzen zu eng setzt.
Als Führungskraft muss ich mich auch immer selbst mitdenken. Das heißt, ich muss mich immer wieder selbst in Bezug zu übrigen System setzen. Dadurch bin ich immer ein Beteiligter. Ich wirke und handle auf jeden Fall. Selbst dann, wenn ich nicht handle, wirke ich. Viele verstecken sich hinter der Idee, nicht beteiligt zu sein, wenn sie nichts gesagt oder getan haben. Aber auch ein Nichthandeln ist ein Handeln. Als Bestandteil eines relevanten

Systems kann man nicht so tun, also ob man nicht da wäre.
Als Führungskraft sollte man sich stets vergegenwärtigen, wo man steht. Ist man Teil des Systems oder steht man draußen? Befindet man sich eher in der Mitte oder am Rand des Systems?
Denn je nach Position im System unterscheiden sich die verfügbaren Informationen, Wahrnehmungen und Interessen.

Wie gehe ich mit Widersprüchen und Konflikten in Organisationen um?

Widersprüche, Widerstände und Konflikte sind der Ausdruck einer bestimmten Lebendigkeit, die nach einer Lösung drängen, aber nicht nach einer Auflösung. Um diese Lösung zu erreichen geht es beständig darum, Widerstände und Widersprüche auszutarieren und abzuwägen und sich selbst immer wieder neu dazu zu justieren.
Gewährt man beispielsweise als Führungskraft eine große Nähe, verliert man Führung - sucht man eine größere Distanz wird auch der persönliche Bezug zum Team weniger. Diese Widersprüche oder Dilemmata gilt es zu managen – und vielleicht auch einmal ein

unangenehmes Niveau zugunsten eines Zieles aufrecht zu halten und auszuhalten.

In der Systemtheorie wird auch immer wieder das Konzept der selbstreferenziellen Systeme, die Autopoiesis erwähnt. Wie kann uns das beim Führen unterstützen?
Autopoiesis ist der Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems. Wir gehen davon aus, dass alle wichtigen und relevanten Informationen und Kompetenzen, in einer bestimmtem Form, im System bereits vorhanden sind. Und dann geht es – auch in der Führung -, darum, diese Ressourcen zu aktiveren und gegebenenfalls frei zu legen.

So betrachtet die systemische Herangehensweise Menschen und Systeme nicht als defizitär, sondern lediglich als blockiert. Wir richten dadurch den Blick sehr schnell auf die Lösung und weniger auf das Problem.
Eine Frage, die ich mir als Führungskraft dann stellen sollte, lautet nicht „Was läuft da falsch?“, sondern „Was brauche ich noch zur Lösung?“ Dadurch verändert sich der Fokus der Kommunikation entscheidend: Gespräche kreisen eher um Lösungen und um Ziele, als um Probleme.

Nehmen wir mal folgendes Beispiel: Eine Führungskraft hat beständig Durchsetzungsprobleme in seinem Team. Ein Lösungsansatz kann sein, dass wir uns nun fragen, was das Team noch braucht. Wie schafft es die Führungskraft, nicht in Führung zu gehen? Was würde geschehen, wenn sie führen würde?

Und was hat das mit Selbsterhaltung zu tun?

In der systemischen Sichtweise gehen wir davon aus, dass das System (also in diesem Fall die Führungskraft und ihr Team) prinzipiell die Kompetenz besitzt, zu führen und geführt zu werden. Aber es scheint da etwas verdreht zu sein - das Team oder Teile des Teams führen die Führungskraft. Das stiftet Verwirrung und Unordnung. Hier gilt es eher etwas zu ordnen und möglicherweise nicht unbedingt zu schulen, denn die Ressourcen sind vorhanden. Und gelegentlich lohnt sich auch der Blick in die nächste Hierarchieebene. Denn die hat meist auch ein eigenes Interesse am Gelingen oder Misslingen von Führungskonstellationen.

Welchen Vorteil bietet mir der systemische Ansatz bei der Führung?

Der größte Vorteil ist ein veränderter Blick auf die Arbeitswelt. Mit einem systemischen Blick durchschaue ich schneller das Spiel hinter dem Spiel und kann die Frage, um was es wirklich geht, schneller beantworten. Der systemische Ansatz bietet eine Möglichkeit, schnell Wesentliches von Unwesentlichem, Vordergründiges von Hintergründigem zu unterscheiden. Und damit ist man als Führungskraft schneller handlungsfähig und oft etwas punktgenauer mit seinen Entscheidungen.
Darüber hinaus bietet der systemische Ansatz ein gutes Diagnosesystem und liefert auch eine Haltung und Einstellung zur Welt. die zum verantwortlichen und reflektierten Handeln anleitet.

Gibt es Voraussetzungen, die ich mitbringen sollte, um als Führungskraft systemisch zu denken?

Die wichtigste Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich selbst kritisch und selbstkritisch immer wieder in unterschiedlichen Beziehungen zu reflektieren. Gegebenenfalls sollte ich auch bereit sein den eigenen Standpunkt zu verändern. Will man systemische Elemente integrieren, sollte man neugierig sein auf unterschiedliche Sichtweisen und die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennen lernen wollen.
Das systemische Führen ist kein Tool, das man sich in wenigenTagen aneignet. Dazu braucht man Geduld. Nimmt man die Theorie der Autopoiesis ernst, gilt es die Politik der kleinen Schritte zu unternehmen,seine eigenen Ressourcen und Potenziale schrittweise frei zu legen.

Zusammengefasst gibt es für mich 6 wichtige Basisaspekte die es beim systemischen Führen zu beachten gibt:

1. Systeme denken

Was und wer gehört zum System? Wo verläuft die Grenze und warum? Welche Verbindungen und Wechselwirkungen gibt es? Wo stehe ich als Führungskraft?
2. Ganzheitliches Denken
Wo spiegelt sich das Kleine im Großen wieder und das Große im Kleinen? Welche Schlussfolgerung ergeben sich aus dem Gesamten für Teilprozesse? Wo zeigen sich Analogien? Wo spiegelt sich das Thema noch wieder?
3. Muster erkennen
Man benötigt Wissen um Ordnungsprinzipien in Organisationen, Wissen um Dynamiken von Gruppen und Menschen. Zwingende Normen und Regeln in Organisationen sind zur Reduktion von Komplexität hilfreich, manchmal aber auch außerordentlich hinderlich.
4. In Prozessen denken
Es gibt keinen Stillstand. Beim Führen gibt es kein Optimum, sondern nur das Managen und das Ausbalancieren von unterschiedlichen Interessen. Widersprüche und Konflikte sind daher der Ausdruck von Lebendigkeit und Veränderungsbereitschaft.
5. Auf Selbstorganisation vertrauen
Es gilt freizusetzen, was zur Lösung noch notwendig ist. Das kann beispielsweise das Lösen von Blockierungen sein oder das Freisetzen bereits vorhandener Ressourcen. Es bedeutet auch, den Blick nach vorne zu richten, das Ziel zu fokussieren und nicht bei Problemen zu verhaften.
6. Zirkulär denken und handeln
Es gibt keine neutrale Beobachtung- ich bin immer Beteiligter – ich wirke ob ich will oder nicht. Jede Kommunikation ist immer eine Intervention und auch eine Information.

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